4. Kap./1* Das „innere Licht“

Die wissenschaftshistorische Bedeutung der Mystik im Kontext der frühneuzeitlichen Theosophie ist ein spannendes Thema. Ihre Interpretation bereitet dem modernen wissenschaftlichen Verständnis Probleme, nicht zuletzt dann, wenn es um die Thematik von Eros und Sexualität geht. Wie können Liebeserlebnisse, die an den Orgasmus erinnern oder ihm gleichkommen und zugleich die Vereinigung mit Gott meinen, angemessen beschrieben werden? Wie ist die Charakterisierung der mystischen Erfahrung einzuschätzen, wie sie der Heilige Bonaventura im 13. Jahrhundert zum Ausdruck brachte? Der französische Philosoph Étienne Gilson schrieb: „So ist die Ekstase Umarmung eines Guten im Finstern, dessen Sein das Denken nicht erreicht. Das ist der tiefe Sinn der Formel: Die Liebe reicht weiter als das Auge.“[1] In der „Göttlichen Komödie“ habe die Heilige Jungfrau „die höchste Mittlerrolle zwischen Erkenntnis und Ekstase“ übernommen und Bernhard sei „der geborene Fürsprecher bei ihr“.

Es gibt zwei entgegengesetzte Perspektiven der Deutung: Der biologistische (oder materialistische) Blick würde eine unterdrückte Sexualität diagnostizieren, die sich auf mehr oder weniger pathologische Weise ekstatisch (etwa nach dem Freud‘schen Modell der „Konversionshysterie“) Luft macht. Der spiritualistische (oder idealistische) Blick würde dagegen eine geistige Ergriffenheit bzw. Erleuchtung konstatieren, die sich der Sexualität nur metaphorisch bedient. Kurt Salecker ging in seiner Werkbiografie über Christian Knorr von Rosenroth nicht so weit, aber immerhin formulierte er in ermäßigter Form einen analogen Gegensatz: nämlich den von Gefühlsmystik und Erkenntnismystik, Eros und Agápê, ein „Gegensatz, der sich in der Verschiedenheit von der Bernhardisch-Franziskanischen und der Eckehartischen Mystik erfassen läßt.“ Die Gefühlsmystik sei „analog der irdischen Liebesgemeinschaft zwischen Braut und Bräutigam.“[2] Dagegen sei für Eckeharts Erkenntnismystik Gottesliebe „nicht das erregte Gefühl, nicht Rausch und Genuß mit dem brünstigen Ausdruck irdischer Erotik, sondern sie ist eine starke und innige, willens- und tatkräftige Liebe, die an die ‚praktische Liebe’ Kants erinnert.“ Diese Erkenntnismystik hätte „in den Kreisen um und nach Sebastian Frank [sic] und Jacob [sic] Böhme und der weitverbreiteten naturphilosophischen Mystik“ weitergelebt.

Christian Knorr von Rosenroth sei in dieser Perspektive zu sehen. Er sei kein Gefühlsmystiker gewesen und habe die erotische Sprechweise nur symbolisch verwendet. Er wollte nur „eine reine geistige Erhebung der Seele ins Übersinnliche.“ Die alchemistische Vorstellung des Reinigens und Aufstiegs fasste Knorr im „Neuen Helikon“ in einer „Aria“ zusammen:

„Was unrein muß in uns verbrennen,

Dann bleibt was gold geputzt und schön:

Daß hier kein Mensch kann lernen kennen,

So lang er bleibt im tieffen stehn.

Gemüther auf, hinauff zur Sonnen,

Da unser Geist ist hergeronnen.“[3]

Knorrs Gemütserhebung blieb im Unterschied zur Brautmystik ein rein geistiger Vorgang, der keinen ausdrücklichen Bezug zur Geschlechtlichkeit herstellte. Er nannte die Gottesliebe gelegentlich ein „Verstandes-Feuer“. Diesem ging es nicht um Eros, sondern um Freundschaft, um eine Verbindung von Christentum und Philosophie und sei „eine abgesagte Feindin jener Wollust“, die nur den Eigennutz zu suchen pflege.[4] Nicht die mystisch höchste Lust, sondern christliche „agápê“, ein „keuscher Mut“, ein „großes Herz“ waren angesagt.[5] Ziel war die Wiedergeburt der menschlichen Seele, die Erlangung eines neuen Selbst. Dessen Symbol war der „lichtblaue Stein in der Offenbarung Johannis“, vergleichbar dem Hyacinth. Sein Licht beschrieb Knorr in anderm Zusammenhang folgendermaßen: „Dieses ist ein liechtblaulichter Stein / nach Beschreibung der Alten auch Plinii I. 37/9 wie die blaulichte Lufft / liechter als Violen / und bedeut die stetswehrende Heiterkeit und Klarheit des Verstandes /welche durch keine Wolcken trüber Leydenschafften übernebelt wird.“[6]

Im Folgenden wollen wir einen Sprung ins 20. Jahrhundert wagen, in dessen finsterste Zeit, und uns einer großen Frau zuwenden, deren Eros des Denkens beeindruckt. Das Hören der „inneren Stimme“ und das Sehen des „inneren Lichtes“ bezeichneten in der Mystik das unmittelbare Erleben der Begegnung mit Gott, das dem Menschen schlagartig die Wahrheit erkennen ließ und ihn von äußeren Zwängen, irreführenden Einflüsterungen und gefährlichem Dunkel befreite. Der mystische Mensch erkannte Gott in sich mit absoluter Gewissheit, was ihn unempfindlich gegenüber schmerzlichen Widerständen und furchtlos gegenüber drohenden Gefahren machte. Das Leben der französischen Philosophin und Mystikerin Simone Weil legt hiervon Zeugnis ab. Zunächst wollen wir ihr Schicksal etwas genauer ins Auge fassen, insbesondere der Bedeutung des „inneren Lichts“ als Wegweiser für die politische Lebensführung. Sie studierte vor allem Philosophie für das Lehrfach und war Schülerin des Philosophen Émile Chartier, der unter seinem Pseudonym „Alain“ veröffentlichte. Sie engagierte sich in der Arbeiterbewegung und ließ sich 1933 als Lehrerin am Lyzeum von Le Buy ein Jahr lang beurlauben, um als Arbeiterin unter anderem in den Renault-Werken die Arbeitsbedingungen am eigenen Leibe zu studieren.[7] Im Sommer 1936 beteiligte sie sich an der katalanischen Front auf Seiten der „rojos“ im Spanischen Bürgerkrieg. Im Sommer 1940 floh Simone Weil zusammen mit ihren Eltern vor den deutschen Besatzungstruppen nach Südfrankreich und ließ sich in Marseille nieder. Sie trat dort mit dem Philosophen Gustave Thibon in Verbindung, dem späteren Herausgeber ihres Hauptwerks „Schwerkraft und Gnade“, setzte sich mit griechischer und indischer Philosophie auseinander, lernte Sanskrit und wandte sich der Mystik zu. Sie emigrierte dann zusammen mit ihren Eltern in die USA, wo sie Ende Juni 1942 in New York eintraf. Doch schon im November desselben Jahres fuhr sie nach England, um die französische Exilregierung unter Maurice Schuman zu unterstützen. Aus Solidarität mit ihren französischen Landsleuten nahm sie nicht mehr Nahrung zu sich, als diesen gemäß ihren Lebensmittelkarten zustand. Sie starb im Alter von 34 Jahren im Sanatorium von Ashford (Grafschaft Kent) „an Hunger und Herzinsuffizienz infolge von Tuberkulose“.[8]

Der Literaturnobelpreisträger T. S. Eliot wies auf die irritierende und manchmal verstörende Wirkung der Weil’schen Texte hin: ihre „bestürzende Originalität“.[9] Man müsse ihre Werke immer und immer wieder lesen, „um allmählich zu einem schrittweisen Verständnis aufzusteigen.“ Und Eliot ging noch weiter: „Man muß sich einfach der Persönlichkeit eines Genies ausliefern, eines Genies, das dem der Heiligen verwandt ist.“ Er konstatierte einen unerträglich wirkenden Gegensatz zwischen ihrer „fast übermenschlichen Demut und dem, was eine Ärgernis erregende Anmaßung ist“. Selbstsucht und Selbstlosigkeit ähnelten zwar einander, sollten aber nicht miteinander verwechselt werden. Simone Weil sei, so Eliot, „in höchstem Maße dreierlei: französisch, jüdisch und christlich.“ Sie kritisierte die Rechten wie die Linken, verwarf den göttlichen Auftrag Israels, „was sie hinderte, eine rechtgläubige Christin zu sein“. Vielmehr schienen ihr die Chaldäer, Ägypter und Hindus Offenbarungen empfangen zu haben. Sie lehnte die Römer und Spanier als imperialistische Zerstörer örtlicher Kulturen ab und machte sich zum Anwalt der druidischen Kultur. Ihre „emotionale Logik“ habe sie allerdings zu bedeutungslosen Verallgemeinerungen geführt, die die Geduld der Leser herausforderten. Soweit T. S. Eliot über Simone Weil.

Wie sie in ihrer Schrift „Die Einwurzelung“ darlegte, bedeutet nicht der Schmerz und nicht das Leiden, sondern das Unglück „eine Entwurzelung des Lebens“.[10] Das Unglück treffe das Leben „unmittelbar oder mittelbar in allen seinen Teilen“, wobei der soziale Faktor wesentlich sei. Das Unglück in Form eines Schicksalsschlags sei etwas so „Einzigartiges, Unvergleichliches“, dass „Mitleid mit den Unglücklichen eine Unmöglichkeit“ sei. Und doch: „Wenn es sich wahrhaft ereignet, ist es ein Wunder, erstaunenswürdiger als das Wandeln auf dem Wasser, die Heilung der Kranken und sogar die Auferweckung eines Toten.“ Sie bezog sich auf das „Unglück Christi“, der sich am Kreuz verlassen glaubte, und an Hiob als „Figur Christi“, der vor Schmerz aufschrie: „Er lacht des Unglücks der Unschuldigen.“ So sei das Buch Hiob „ein reines Wunder an Wahrheit und Echtheit“. Das Unglück lasse Gott „abwesender als ein Toter“ erscheinen, „abwesender als das Licht in einem völlig finsteren Kerkerloch.“ Die einzige Rettung der Seele sei, „ins Leere hinein zu lieben“; dann nahe sich eines Tages Gott selbst und enthülle ihr, wie Hiob, „die Schönheit der Welt“. Großartig stellte Simone Weil die Übertragung des Bösen vom Verbrecher auf den Unschuldigen dar: „Das Böse wohnt in der Seele des Verbrechers, ohne dort empfunden zu werden. Es wird empfunden in der Seele des unglücklichen Unschuldigen.“ Und ausgenommen der Menschen, die ganz von Christus ausgefüllt seien, „verachtet jedermann die Unglücklichen mehr oder weniger, obgleich fast niemand sich dessen bewußt ist.“

Radikal formulierte sie die göttliche Liebe als ein Sich-selbst-Lieben Gottes. Die Seele, die von Gott das Samenkorn willig empfangen hat, wird eines Tages Gott gehören und „wahrhaft und tatsächlich“ lieben. „Dann muß sie ihrerseits das All durchqueren, um zu Gott zu gelangen. Die Seele liebt nicht wie ein Geschöpf mit einer geschaffenen Liebe. Diese Liebe in ihr ist göttlich, unerschaffen, denn es ist die Liebe Gottes zu Gott, die durch sie hindurchgeht. Nur Gott ist fähig, Gott zu lieben.“ Das Unglück aber sei „ein Wunder der göttlichen Technik“: ein Nagel, dessen Spitze mit ungeheurer Wucht in „die Seele eines endlichen Geschöpfes getrieben wird.“ Der größte Schmerz aber berühre nicht „jenen Punkt der Seele, der willig auf das Gute gerichtet ist.“ Denn derjenige, der solchermaßen auf das Weltenzentrum angenagelt sei und dessen Seele „die Richtung auf Gott hin“ bewahrt, könne in Gottes Gegenwart selber gelangen. Denn der Nagel habe ein Loch durch die Schöpfung geschlagen, „durch die ganze Dichte der Scheidewand, die die Seele von Gott trennt.“ Die Seele befinde sich dann am Schnittpunkt zwischen Schöpfung und dem Schöpfer, „wo die Balken des Kreuzes sich überkreuzen.“

Simone Weils Kritik des Marxismus war radikal. Sie habe sich nach Verkündung des Bankrotts des Marxismus nicht so verhalten, „als hätte es ihn gar nicht gegeben“, bemerkte ihr Übersetzer, der deutsch-jüdische Schriftsteller Heinz Abosch: „In der Verstaatlichung der Wirtschaft sah sie keinen qualitativen Umschlag in die Richtung einer besseren Gesellschaft.“[11] Sie misstraute dem späten Marx und seiner Doktrin, die „kläglich die Gemeinplätze der Religion mit denen der Wissenschaft vermischt“. Denn es werde der Glaube erweckt, „ein moderner Gott namens Fortschritt“ treibe die Dinge nach vorn, „die moderne Vorsehung namens Geschichte mache für sie die Hauptanstrengung.“ Sie unterstellte dem Marxismus „scheinwissenschaftliche Flitter“ und „messianische Beredsamkeit“.

Nicht minder radikal fiel ihr Urteil über die politischen Parteien aus. Kurz vor ihrem Tod am 24. August 1943 verfasste sie im englischen Exil die flammende Streitschrift „Note sur la suppression générale des partis politiques“, die erstmals 1950 publiziert wurde und die in deutscher Übersetzung erst 2009 erschien.[12] Sie nannte keine Parteien beim Namen, denn ihr ging es um die aus ihrer Sicht fatale Konstruktion einer politischen Partei schlechthin. Obwohl sie Nazi-Deutschland und die bolschewistische Sowjetunion mit ihren jeweils brutal herrschenden Parteiapparaten leidvoll vor Augen hatte, ging es ihr nicht um die Unterscheidung von guten und bösen Parteien, sondern um die radikale Kritik von Parteien überhaupt. Als die deutsche Übersetzung zur Zeit der Bundestagswahl 2009 erschien, hielt sich die Verblüffung über Simone Weils Polemik in Grenzen. So billigte ihr ein Rezensent zwar klare Sprache, „rousseauistische Leidenschaft fürs Gemeinwohl“ und Ernsthaftigkeit der Argumentation zu, aber die heutige Parteienlandschaft habe sich durch Kompromisse und pragmatische Lösungen (Stichwort: „Sozialdemokratisierung“) grundlegend gewandelt.[13] Der entscheidende Punkt in Simone Weils „Anmerkungen“ wurde erst gar nicht erwähnt: ihre Berufung auf die religiöse Erfahrung des „inneren Lichts“ als Richtschnur politischen Handelns. Wer das gegenwärtige Geschäft der politischen Parteien im nationalen wie internationalen Rahmen beobachtet oder gar selbst mit betreibt, wird rasch merken, dass das Befolgen des „inneren Lichts“ heute grundsätzlich nicht weniger Mut verlangt wie damals und von den meisten wie damals verleugnet wird.

Auf dem Weg in die Emigration übergab Simone Weil im Mai 1942 auf dem Bahnhof von Marseille dem mit ihr befreundeten Philosophen Gustave Thibon eine Aktentasche mit Aufzeichnungen. Dieser veröffentlichte eine Auswahl von ihnen, nachdem er sie in eine „lockere Ordnung“ gebracht hatte, unter dem Titel „La pesanteur et la grâce“ (dt. „Schwerkraft und Gnade“).[14] Mit dieser Schrift, die als ihr Hauptwerk gilt, wollen wir uns im Folgenden näher befassen, vor allem mit jenen naturphilosophischen Denkfiguren, die zum Thema der göttlichen Liebe gehören.

[1] Étienne Gilson: Die Philosophie des Heiligen Bonaventura. Köln; Olten: Hegner, 1960: S. 491 bzw. 723, 732.

[2] Kurt Salecker: Christian Knorr von Rosenroth (1636-1689). Leipzig: Mayer & Müler, 1931 (Palaestra; 178): S. 63-67.

[3] Zit. n. Salecker, 1931 [wie Anm. 6]: S. 68 [Neuer Helikon, Aria LIV].

[4] Zit. ebd. S. 71.

[5] Salecker, 1931 [wie Anm. 6]: S. 72, 81 f.

[6] Christian Knorr von Rosenroth: Eigentliche Erklärung über die Gesichter der Offenbarung S. Johannis / Voll unterschiedlicher neuer Christlicher Meinungen. […] [s. l.], 1670: . 202.

[7] Simone Weil: Das Unglück und die Gottesliebe. Mit einer Einführung von T. S. Eliot. München: Kösel, 1953: S. 249-251 [Notiz des Übersetzers].

[8] http://de.wikipedia.org/wiki/Simone_Weil#Tod_in_England (3.05.2011).

[9] T. S. Eliot: „Vorwort“ zu Weil, 1953 [wie Anm. 11], S. 9-17.

[10] Weil, 1953 [wie Anm. 11], S. 111 f., 114-116, 131, 133 f.

[11] Simone Weil: Unterdrückung und Freiheit. Politische Schriften. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Vorwort von Heinz Abosch. München: Rogner & Bernhard, 1975: S. 17 [Vorwort], 273.

[12] Simone Weil: Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien. Zürich; Berlin: Diaphanes, 2009.

[13] Jens Bisky: Überlegungen zum Gemeinwohl. Schafft die Parteien ab! [Rezension zu S. Weil, 2009, wie Anm. 16] süddeutsche.de 22.09.2009.

[14] Simone Weil: Schwerkraft und Gnade. Mit einer Einführung von Gustave Thibon. [Deutsche Übersetzung der französischen Originalausgabe Paris 1948 von Friedhelm Kemp]. München: Kösel, 1952: S. 55 [“Einführung” von G. Thibon], 59, 61, 63, 68 f., 120, 106 f., 110 f., 130 f., 139, 216, 154 f., 189, 209 f., 212, 214 f., 229, 231 f., 265-268, 272.